Lernen

Lernen nach Moshé Feldenkrais

"ich behandle keine Menschen
ich gebe Lektionen, um Menschen zu helfen,
über sich zu lernen"

 

  • Organisches Lernen beginnt im Mutterschoß und geht weiter, solange der Mensch physisch wächst. Andere Formen des Lernens werden von Lehrern geleitet und finden in Schulen, Fachschulen und Hochschulen statt, wo zahlreiche Schüler versammelt sind. Zwischen diesen beiden Arten des Lernens bestehen sowohl Ähnlichkeiten als auch wesentliche Unterschiede, von denen einige sehr subtil sind.
  • Wenn ein Erwachsener etwas erreichen möchte, das anderen offensichtlich leicht fällt, bei dem aber er auf Schwierigkeiten stößt, hat er meist das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung ist. Eltern wie Lehrer werden ihn anspornen, sich mehr anzustrengen; beide glauben, dass es Faulheit sei, die in irgendeiner Form ihn am Lernen hindere. Tatsächlich führt vermehrter Fleiß mitunter zu einer Art Besserung oder Fortschritt; aber man trifft allzu oft Menschen, die in ihrem späteren Leben entdecken, dass diese Änderungen nur oberflächlich waren.
  • Die Bahnen im Nervensystem eines Embryos, eines Kleinkindes und eines Kindes werden durch seine Sinne, seine Gefühle und kinästhetischen Empfindungen, wie seine räumliche, zeitliche, elterliche, soziale und kulturelle Umwelt sie in ihm hervorruft, gleichsam verdrahtet. Da jedoch organisches Lernen beim Kind eine komplexe Struktur und verschiedene miteinander verbundene Funktionen ins Spiel bringt und sich über mehrere Jahre erstreckt, kann solches Lernen nicht ohne Unvollkommenheiten, Fehler und Misslingen geschehen. Organisches Lernen ist jedoch individuell und geht ohne einen Lehrer vor sich, der etwa in einer bestimmten Zeit zu bestimmten Ergebnissen gelangen möchte. Es dauert so lange, wie der Lernende beim Lernen bleibt.
  • Dieses Organische Lernen ist langsam und kümmert sich nicht um die Bewertung etwaiger Ergebnisse als gut oder schlecht. Es hat keinen erkennbaren Zweck, kein Ziel. Es wird gelenkt einzig von dem Gefühl der Befriedigung, das sich einstellt, wenn jeder neue Versuch als weniger ungeschickt empfunden wird als der vorangegangene, weil jetzt ein kleiner Fehler vermieden wurde, der zuvor als unangenehm oder als hinderlich empfunden worden war. Es kann vorkommen, dass der Lernende, von den Eltern oder von wem auch immer angefeuert oder gar gedrängt, irgendein erstes Gelingen zu wiederholen, Rückschritte macht, dass er regrediert; weitere Fortschritte können so um Tage, ja Wochen verzögert werden oder überhaupt ausbleiben.
  • In Wirklichkeit führt zielstrebiges Üben nur zu Geläufigkeit, d. h., es lässt Fehler, die dabei unterlaufen, zu blinder Gewohnheit werden. Man fühlt die Dysfunktion – und weiß sich nicht zu helfen. Man versucht das Richtige zu tun, merkt das Misslingen und ist zuletzt überzeugt, dass man irgendwo am Grunde nicht in Ordnung ist. Denkt man z. B. an Musiker, Maler, Dichter, aber auch an die Bereiche des Denkens, des Fühlens, des Liebens überhaupt, so möchte man meinen, Männer wie Bach und Beethoven, Michelangelo und Picasso, Tolstoi und Joyce, Shakespeare und Kafka, Einstein und Wittgenstein, Dante und Goethe hätten kein anderes Naturgesetz entdeckt als das ihres eigenen Denkens und Fühlens. Sie haben nicht angewendet, was man sie gelehrt hatte und was als „richtig“ galt, sondern eigene, persönliche Verfahrensweisen entwickelt.

 

  • Setzen Sie sich auf den Boden.
  • Legen Sie die Hände hinter sich und stützen Sie sich darauf mit den Armen, die Ellbogen beinah durchgestreckt.
  • Beugen Sie die Knie so, dass die Fußsohlen vor Ihnen flach auf dem Boden stehen.
  • Neigen Sie die Knie nach rechts, wobei sich Knie und Beine um die Füße als Angeln bewegen.
  • Neigen Sie die Knie dann nach links, dann wieder nach rechts.
  • Während Sie damit fortfahren, die Knie nach links und rechts zu neigen, beachten Sie, dass die Kniebewegung vom Becken ausgeht.
  • Merken Sie, dass dem Neigen der Knie nach rechts ein Steifen des linken Arms vorausgeht, so dass der Druck der linken Hand gegen den Boden den Beginn der Beckenbewegung erleichtert, und dass Sie gleichzeitig den Kopf heben und ein klein wenig zurücklegen.
  • Fahren Sie mit dem Neigen der Knie nach links und rechts fort und achten Sie dabei auf die Veränderung, die der Bewegung jeweils vorausgeht im Rumpf, in der Wirbelsäule, im Kopf, und auf das Maß Ihres Kraftaufwands.
  • Machen Sie diese Bewegungen langsam, und Sie werden sie jedes Mal leichter finden, bis Sie sich inne werden, wann genau Sie während der Bewegungsphasen ein- bzw. ausatmen.
  • Kehren Sie das um, d. h. fangen Sie genau dann an auszuatmen, wo Sie vorher eingeatmet hatten, und fahren Sie fort, bis Sie sich inne werden, welche Version die Neigebewegung der Beine leicht macht.
  • Ob Ihr Urteil hier falsch oder richtig ist, bleibt vorläufig belanglos.
  • Wenn nach wenigen Minuten Ihre Aufmerksamkeit und Bewußtheit besser geworden sind, werden Sie auch besser urteilen können, da Ihre Empfindlichkeit zunehmen wird, indem Sie Ihre Anstrengungen verringern.
  • Fahren sie mit dem Knieneigen zwei, drei Minuten lang fort, oder machen Sie ein Dutzend solcher Bewegungen oder so viele oder so lange als Sie sich dabei behaglich und wohlfühlen.

 

  • Fehler lassen sich beim Lernen nicht vermeiden, nicht einmal dann, wenn wir uns ausschließlich auf strikte Nachahmung verlassen.
  • Wer keine Fehler machen kann, kann auch nicht lernen.
  • Für uns heißt lernen: das Unbekannte begreifen. Jede Handlung kann zu Unbekanntem führen.
  • Wenn Sie von Anfang an ausschalten, was Ihnen falsch scheint, könnten Sie jedes Interesse am Lernen verlieren.
  • Fehler können wir ausschalten, wenn wir wissen, was richtig ist.
  • Aber wenn wir wissen, was richtig ist, können wir aufs Lernen überhaupt verzichten: bloßes Wiederholen oder Üben wird uns ein gewisses Können beibringen.
  • Bewusstheit durch Bewegung führt zur Selbsterkenntnis und zur Entdeckung bislang ungeahnter Möglichkeiten in uns selbst. Statt Fehler zu vermeiden, verwenden Sie sie lieber absichtlich als Alternativen für das, was Sie zunächst als richtig empfinden. Es könnte sein, dass Richtig und Falsch bald die Rollen tauschen.